Neuroplastizität, oder was unser Gehirn alles kann

Einige interessante Ansätze weisen inzwischen durch die bildgebenden Verfahren nach, dass bei Legasthenikern die Hirnstruktur und der Hirnstoffwechsel in einigen Hirnarealen anders sind bzw. mit anderen Konzentrationen von Botenstoffen, wie Dopamin und Noradrenalin, ablaufen als üblicherweise bei nicht Legasthenikern.
Die Neuroplastizität unseres Gehirns jedoch ist hier der entscheidende Aspekt. Unter Neuroplastizität verstehen die Wissenschaftler, dass sich unser Gehirn so entwickelt, wie wir es gebrauchen. Vergleichbar mit unseren Muskeln, wer nur den rechten Arm trainiert und den linken hingegen festbindet, der wird nur im rechten Arm eine starke Muskulatur ausbilden – das ist sicher jedem klar.
Wenn Legastheniker nun – warum auch immer – ihr Gehirn anders verwenden als nicht Legastheniker, so ist es nur normal, wenn dieses sich, seiner Verwendung angepasst, entwickelt.

Drei Geschichten dazu, die nichts mit Legasthenie zu tun haben, welche jedoch die Entwicklungsmöglichkeiten unseres Gehirns verdeutlichen.

Englische Jugendliche

Eine Untersuchung an englischen Jugendlichen hat ergeben, dass sich seit ca. 10-15 Jahren die Region, die zuständig ist für die Regulation der Bewegungen des meist rechten Daumens, im Gehirn der Jugendlichen immer größer wird, sich immer mehr ausbreitet. Dass heißt, dass immer mehr Raum eingenommen wird und dass Netzwerke immer dichter werden. Das hat zur Folge, dass diese Region aktiver und stärker ausgebildet ist.
Dies lässt sich erklären mit der immer größeren Verbreitung der Handys und dem hoch automatisierten Schreiben von SMS.
Es ist also so, dass die Ausbreitung neuer Kulturtechniken zu Veränderungen in unseren Gehirnen führt. Unser Gehirn passt sich an die veränderten Nutzungsbedingungen an – nur dadurch ist es uns Menschen möglich zu lernen.
Übrigens, dies gilt mit Sicherheit für deutsche Jugendliche (ja weltweit) in gleichem Maß, die häufig ein Handy zum Schreiben von SMS benutzen.

Das geht doch gar nicht?

Ein kleines Mädchen wurde im Alter von ca. 2 Jahren sehr schwer krank und die Ärzte stellten fest, dass sie eine Enzephalitis (schwere Entzündung im Gehirn) hatte. Die linke Gehirnhälfte war schlimm betroffen und die Entzündung drohte auf die rechte Hälfte überzutreten. Um dies zu verhindern, entfernten die Ärzte die kranke Gehirnhälfte operativ – es gab keine andere Möglichkeit.
Das Mädchen wurde gesund und wurde nicht weiter besonders ärztlich betreut.
Als junge Frau, mit 24 Jahren, litt sie häufig unter Kopfschmerzen und entschied sich darum einen Neurologen aufzusuchen. Diesem erzählte sie ihre Geschichte, dass sie nur eine Gehirnhälfte habe. Dieser Arzt konnte nicht wirklich glauben, was sie sagte.
Denn sie sprach fließend zwei Sprachen, türkisch und englisch, und auch ihr analytisches Denken war durchaus als normal einzuschätzen. Die Patientin weiß insgesamt (abgesehen von ihren Beschwerden) keine Besonderheiten oder gar Störungen irgendwelcher Funktionen auf. Das obwohl ihr damals die Gehirnhälfte entfernt wurde in der normalerweise das Sprachzentrum sowie das Zentrum für analytisches Denken und natürlich noch für vieles mehr liegt.
Da er ihr nicht sagen konnte, dass er ihr nicht glaubt, ließ er eine Computertomographie machen und war sehr erstaunt. Diese Frau hatte tatsächlich nur ein halbes Gehirn.

Fazit, wenn das Gehirn in frühen Jahren geschädigt wird, ist es in der Lage nur mit der Hälfte auszukommen. Alle notwendigen Entwicklungen können, obwohl üblicherweise in beiden Gehirnhälften aufgeteilt, auch von nur einer Hälfte des Gehirns bewältigt werden.

Geht dies nun nur in jungen Jahren?
Sicher geht es in jungen Jahren leichter, jedoch viele Schlaganfallpatienten sind auch nach Lähmungen in der Lage, durch intensives Training, ihre Beweglichkeit wieder herzustellen und manchmal sogar die Sprache erneut zu erlernen. In diesen Fällen wird auch nachweisbar auf gesunde nicht geschädigte Hirnareale zurückgegriffen und unser Gehirn lernt neu – eben neuroplastisch.

Mit 66 Jahren da fängt das Leben an …

oder mit 65 ist es noch lange nicht vorbei, auch wenn man plötzlich durch einen Infarkt erblindet. So ist es einer Frau ergangen, die in ihrem ganzen Leben sehr gern und viel gelesen hat. Da sie auch jetzt nicht auf das Lesen verzichten wollte fragte sie ihren behandelnden Neurologen, ob sie noch die Blindenschrift (Brailleschrift) erlernen könnte. Der Neurologe bekräftigte sie in ihrem Vorhaben, bat sie nur darum vorher in einem Computertomographen eine Untersuchung machen zu lassen, weil er untersuchen wollte ob und wie sich ihr Gehirn dadurch verändern wird. Sie stimmte zu und nach einem halben Jahr konnte sie die Blindenschrift perfekt lesen. Die erneute Untersuchung ergab, dass der Bereich, in dem die Fingerkuppensensibilität repräsentiert ist sich deutlich verändert hatte und wesentlich aktiver war als noch vor einem halben Jahr.

Diese drei Geschichte zeigen, dass unser Gehirn nichts lieber tut als zu lernen. Es tut Tag und Nacht nichts anderes. Wenn wir dann jedoch das Gefühl haben, dass wir nicht recht lernen können, dann lernt unser Gehirn auch – nämlich, dass wir nicht recht lernen können … und all den Quatsch, den wir und andere gerade machen, den lernt es auch – FATAL ODER???

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