Das bildhafte Denken

Auch hier fasse ich unter dem Begriff Legasthenie folgende Teilleistungsstörungen – Legasthenie, Dyskalkulie, Dyspraxie sowie Dysgraphie – und ADS/ADHS zusammen. Eine kurze Erklärung der Fremdworte finden Sie in der Zusammenfassung der verschiedenen Begriffe im Bereich Teilleistungsstörungen.

Eine Zusammenfassung der folgenden Erklärungen finden Sie in diesen Film.

Was ich Ihnen hier am Beispiel von Deutsch erkläre gilt abgewandelt auch für Mathematik. Der Unterschied besteht darin, dass alles was ich an Buchstaben erkläre dann für Zahlen und Rechenzeichen gilt.

Einige Aspekte dazu:
  • bildhaftes Denken ist sehr schnelles Denken, viel schneller als das Denken in Worten

ACHTUNG SELBSTVERSUCH!

Bitte stellen Sie sich einen schönen blauen Himmel mit einigen Flugzeugen und Wolken vor.

Schon fertig?

Bitte überlegen Sie sich jetzt in Worten, wie sie dieses innere Bild genau beschreiben, so dass sich ein möglicher Zuhörer Ihr inneres Bild auch genau so vorstellen kann wie Sie.

Stimmen Sie mir zu, dass Sie viel länger dazu brauchen?

Also ist das bildhafte Denken ein schnelles Denken.

  • dieses schnelle bildhafte Denken ist ein wesentlicher Aspekt für Kreativität

Wenn Legastheniker nun bildhafte Denker sind, und kreativ dazu – wieso sind sie dann in der Schule oft so langsam und wieso entwickeln sie überhaupt ihre legasthenischen Probleme?

  • dieses intensive bildhafte Denken ist fast immer auch dreidimensional

Schwierig kann es werden, wenn ein Kind, dass bisher in seinem Leben immer dreidimensional gedacht und im inneren Bild auch dreidimensional gesehen hat, mit zweidimensionalen Buchstaben, Zahlen und Symbolen im allgemeinen konfrontiert wird. Dann kann diese Dreidimensionalität leicht zu Verwirrung führen.

ACHTUNG SELBSTVERSUCH!

Bitte stellen Sie sich das kleine d vor.

Jetzt wechseln Sie bitte ihren Standort und schauen sich das kleine d von hinten an.

Sie sehen in ihrer Vorstellung nun ein kleines b – richtig.

Wenn dies nun ein Kind macht, dass die Buchstaben erst kennen lernt ist es fatal.
Außerdem ist dies nur ein Beispiel, die Kinder machen dies mit allen Buchstaben oder Zahlen und Symbolen so. Stellen Sie sich dieses Chaos vor.

Das ist aber noch nicht alles.

  • es gibt bildhafte und bildlose Worte in unserer Sprache

Kein Baby kann, wenn es geboren wird sprechen, damit erzähle ich Ihnen keine Neuigkeit. Es erlebt seine Welt bildhaft und es denkt in Bildern oder Episoden (kleinen Filmen).
In der kindlichen Entwicklung kommt dann die Sprache zu allen nonverbalen (nichtsprachlichen) Ausdrucksformen hinzu.
Nicht legasthenische Kinder beginnen im alter von 5-6 Jahren auch mit Sprache, also mit Wörtern, zu denken. Das bis dahin rein bildhafte Denken wird also ergänzt mit sprachlichem Denken.
Legasthenische Kinder entwickeln diese Fähigkeit erst deutlich später, etwa im Alter von 9-12 Jahren. Einige wenige Menschen entwickeln diese Fähigkeit nie.

Was das für legasthenische Kinder bedeutet möchte ich Ihnen erneut an einem Beispiel verdeutlichen.

ACHTUNG SELBSTVERSUCH!

Bitte Stellen Sie sich ein Schloss vor.

So mancher von Ihnen wird vor seinem inneren Auge ein Bauwerk sehen und andere ein Vorhänge- oder Türschloss …

Nun stellen Sie sich bitte einen Hund vor.

Auch hier wird es so sein, dass Sie sich die verschiedensten Rassen vorstellen, aber Sie haben wie vorher beim Schloss eine mehr oder weniger klares inneres, meistens dreidimensionales Bild dafür.

Jetzt bitte ich Sie, stellen Sie sich bitte und vor.

Die meisten Menschen haben die drei Buchstaben u n d in Ihrem inneren Bild.
Das könnten Sie mit vielen, meist kleinen Worten so erleben. Ich mache Ihnen ein paar weitere Beispiele:
der, die, das, dem, den, somit, für, von, mit, durch, später, bei, wer, wie, denn …
Diese Aufzählung ließe sich beliebig weiter fortführen. Immerhin hat unsere Sprache ca. 40% bildlose Worte.
Wichtig zu wissen ist, nicht für jeden Legastheniker sind die gleichen Worte bildlos, das ist immer abhängig von der persönlichen Entwicklung.

Schloss sowie Hund sind bildhafte Worte und bereiten einem Legastheniker, wenn er ihre Bedeutung kennt, keine Probleme.
Da legasthenische Kinder noch nicht mit Worten denken, haben Sie für und gar kein Bild.
Beim Lesen eines Satzes bauen sich innere Bilder auf, die dafür sorgen, dass wir den Satz verstehen können.
Trifft ein legasthenisches Kind beim Lesen auf ein bildloses Wort im Satz erlöschen jeweils die vorher entstandenen Bilder und es bleibt ihm nur ein weißes Blatt.
Das führt erst mal zu Verwirrung.
Da jedes Kind das Lesen lernen möchte, strengt sich das Kind an erhöht seine Konzentration und versucht weiter zu lesen. Bis sich beim nächsten bildlosen Wort erneut alles wiederholt ….
Bei jedem neuen bildlosen Wort wird die Konzentration erneut gesteigert. Versuchen Sie sich bitte vorzustellen wie es ist mit ständig steigender Anstrengung zu arbeiten.

Ein Beispiel aus der Mitte der Fibel meines Sohnes. Ich werde die möglichen bildlosen Worte für Sie kennzeichnen.
Die schön bunt und gut ablenkend gestaltete Seite enthält:

Vier kleine Tierrätsel

Er kräht beim ersten Morgenlicht,
hat einen Kamm und kämmt sich nicht.

Ich möchte hören, ob ihr kennt
den Vogel, der sich selber nennt.

Was fliegt so schön bei Sonnenschein
und kehrt als Gast bei Blumen ein.

Wenn ich nur wüsste, wer das ist,
der immer mit zwei Löffeln frisst.

Das ist ein durchschnittliches Beispiel.
Kinder mit wirklich großen Problemen haben möglicherweise zusätzlich mit den Worten kleine, ersten, Morgenlicht, hat, einen, ich, selber und schön Schwierigkeiten.

Wenn Sie jetzt den Aspekt hinzuziehen, dass Verwirrung zu Desorientierung führt, und jedes markierte Wort für Verwirrung sorgt, dann ahnen Sie jetzt vielleicht wie es diesen Kindern geht.

Zur Erinnerung, Desorientierungen sind Situationen, in denen vom Betroffenen nicht mehr korrekt wahrgenommen wird, was um ihn herum geschieht. Nähere Erläuterungen dazu finden Sie im Text über die Ursachen oder etwas weiter unten.

Habe ich Sie verwirrt? Dann spüren Sie ein klein wenig wie es diesen Kindern fast immer geht, wenn sie lesen … wollen oder sollen.

Verstehen Sie jetzt warum die schnellen bildhaften Denker in ihren Schwierigkeitsbereichen so langsam werden?
Sie müssen ja mit einer Vielzahl von Hindernissen arbeiten, die sich ihren nicht legasthenischen Schulkameraden gar nicht stellen.

Weitere Hintergründe zu Verwirrung und Desorientierung.

zurück